Leinenlos Geliebt.

Das verlorene Herz

  • Vorab: dies wird ein etwas längerer Text als sonst. Bitte nimm dir trotzdem Zeit.

    Am 24.03. hatten wir beim Kältemobil 46 Gäste. Das ist ein neuer Rekord und zeigt auf, dass unsere Arbeit in Heilbronn angenommen wird. Insgesamt hatten wir nun 809 Gäste bei 42 Fahrten – das sind über 19 pro Abend –  und haben dabei über 1400 Essen ausgegeben.

    Seit Anfang November sind wir in der Regel zwei Mal pro Woche unterwegs und verteilen Suppe, Kaffee, Tee und Care Pakete mit Obst, Schokolade und Eistee an unsere Gäste. Es waren sehr bewegende Monate bis hierhin. Angefangen haben wir am 7.November mit ganzen drei Gästen. Wir waren voller Erwartungen und hatten 50 Portionen Gulaschsuppe dabei, die ich im Nachhinein im Pflegeheim zum Abendessen abgeben durfte. Nach kurzer Frustration ging es weiter – und schon beim nächsten Mal kamen über zehn Personen. Man lernte sich kennen und lieben. Es wuchs eine Gemeinschaft zusammen, die uns alle begeistert und antreibt, immer weiter zu machen.

    Freude am Freude machen mit Mella

    Freude am Freude machen mit Mella

    An Heilig Abend hatten wir unseren ersten Gottesdienst, bei welchem wir eine wunderbare gemeinsame Zeit hatten. Viele unserer Gäste tranken weniger, als dies sonst zu weihnachten üblich war. Und als kleines Highlight grillten wir auf offener Straße Brutzelfleisch. Zu diesem Zeitpunkt waren wir schon mit ungefähr 20 Gästen gesegnet. Seit Jahren sage ich zu meinen Eltern, dass ich an Weihnachten auf der Straße zu hause bin – hier habe ich mein Herz verloren und hier gehöre ich hin. Es ist für mich schon fast Familie geworden. Und mein Herz werde ich auch nicht mehr zurück bekommen…

    auf der Suche nach dem verlorenen Herzen…

    Seitdem ist viel Zeit vergangen und unser Kältemobil hat einiges an Reparaturen hinter sich gebracht, doch es rollt weiter. Auch nach dem letzten Wintermonat. Ab April werden wir einmal pro Woche unterwegs sein, um Zeit mit den Menschen zu verbringen, die diese Zeit annähernd so sehr genießen wie wir. Nur der Name unseres Wagens muss sich über die Monate ändern… Das ist noch offen.

    Was bleibt mir rückblickend zu sagen? Danke für all die tollen Monate. Danke für die vielen ehrenamtlichen Köche, die jedes Essen als Spende an uns abgegeben haben. Danke an alle Helfer vor Ort – und es waren einige dabei, die sich noch vor zwei Jahren nicht vorstellen konnten hier mit zu machen. Aber auch sie haben ein Stück weit ihr Herz verloren. Danke an all die Einrichtungen in Heilbronn, die uns unterstützt haben und dies auch weiterhin tun – ihr seid wunderbar! Danke an all diejenigen, die auf der Straße oder in Sucht leben – ihr habt mein Leben nicht nur bereichert, ihr habt es wirklich lebenswerter gemacht und mir geholfen, dem Leben, welches mir bestimmt ist, wieder einen Schritt näher zu kommen. Wie viele Tränen habe ich gesehen, getrocknet und selbst vergossen? Wie viel haben wir zusammen gelacht? Wie viele Geschichten hat das Leben neu oder umgeschrieben? Ich möchte euch gerne an manchem Erlebnis teilhaben lassen.

    Wir wollen Hände reichen...

    Wir wollen Hände reichen…

    Da ist diese Frau, die keine Lust mehr hat sich regelmäßig zu duschen, weil man ihr ruhig ansehen darf, wie es in ihr aussieht. Sie hat keine Hoffnung mehr und wenn der Erfrierungsschutz zu macht, geht sie wieder auf die Straße. Sie sagt regelmäßig, dass sie sterben möchte und alles, was sie als Aufgabe hat, ist es, Werbung für uns zu machen. Ich weiß nicht, wie oft sie neue Obdachlose angeschleppt und mir vorgestellt hat. Sie hat unheimlich viel Liebe und Hoffnung für alle anderen – nur für sich nicht… Doch vor ein paar Tagen kam sie auf mich zu und meinte, dass sie eine Predigt von unserem Januargottesdienst aufgenommen habe und sie immer wieder anhören würde. Langsam könne sie immer mehr annehmen, was dort gesagt wurde. Langsam verstehe sie diese Worte und könne sich darauf einlassen. Es ging darum, dass unser Leben durch Jesu Tod eine neue Chance bekommt und wir wieder in Gottes Rahmen zurück können, auch wenn wir aus dem Rahmen gefallen sind. Sie kann wieder etwas Licht in ihrem Leben sehen – und ich habe wieder Hoffnung für sie. Es gibt diese Hoffnung – und wir wollen helfen sie kund zu tun!

    zwei unserer treusten Seelen als Mitarbeiter und Gast

    zwei unserer treusten Seelen als Mitarbeiter und Gast

    Bei einem unserer ersten Abende kam ein muslimisch stämmiger Mann auf mich zu – betrunken und wankend. Ich sprach mit ihm über Jesus und er sagte, er sei mittlerweile Christ, aber der Teufel schlage ihn immer wieder nieder. Immer wieder verfalle er Drogen und Alkohol. Er kommt einfach nicht weg. Er bat mich um Gebet. Von da an jedes Mal, wenn wir uns sahen. Er wollte nicht viel, aber er war glücklich, wenn ich ihn in den Arm nahm und für ihn betete. Dann habe ich ihn lange nicht gesehen – bis heute. Er kam, nur um mir hallo zu sagen und zu erzählen, wie er gerade herum reist und dass es ihm gut ginge. Er wollte hallo sagen und gleich darauf fragte er mich, ob ich wieder für ihn beten könnte. Natürlich. Er hat Hoffnung, auch wenn es immer wieder Rückschläge gibt.

    Ein Mann kam mit Rollator, weil er so betrunken war, dass er ohne nicht mehr laufen konnte. Den ganzen Abend pöbelte er andere Gäste an und schrie vor sich hin. Essen konnte er nicht, weil er die Suppenschüssel nicht halten konnte. Er schrie immer weiter, bis ich mich zu ihm setzte und ihn in den Arm nahm. Ich fragte ihn, wie er in den Erfrierungsschutz kommen würde und er schrie mich an, dass es doch scheißegal sei. Mir nicht, erwiderte ich ihm, was dazu führte, dass er mich erstaunt und fragend ansah. Es war mir nicht egal. Diese einfache Aussage sorgte dafür, dass er an diesem Abend noch in einen Entzug ging. Es bewegte ihn, dass ihm mitgeteilt wurde, dass er nicht egal war.

    Da war Ricky.

    Ein Mann, der es nicht verstand, sein Leben zu sortieren. Er lebte seit knapp einem Jahr auf der Straße und an seinem ersten Abend bei uns schenkte ich ihm meine Mütze und einen Schlafsack. Kurz darauf gingen wir einen Pullover kaufen und freundeten uns immer mehr an. Doch gleichzeitig begann er immer mehr zu trinken und verbaute sich alle Chancen. Schließlich bekam er sogar im Erfrierungsschutz Hausverbot, weil er auf das Personal losging. Nun hatte er nichts mehr. Aber wir glaubten an ihn und sagten ihm das auch. Ein Mitglied von uns nimmt immer wieder Menschen bei sich auf. So auch dieses Mal – er bekam obdach, eine Familie, und schließlich auch eine Arbeitsstelle und begann zu glauben. Heute lebt er mit Jesus und führt ein geregeltes Leben. Er wird in Kürze Mitglied und Mitarbeiter bei uns im Verein. Ricky ist für mich wie ein weiterer Bruder geworden. Er hat es heraus geschafft. Weil Menschen an ihn geglaubt haben und ihn nicht losgelassen haben.

    Mehr zu ihm in Kürze in einem extra Text.

    Da ist dieser Russlanddeutsche, der immer alkoholisiert ist und sich schwer tut, zu reden. Ich nahm ihn in den Arm und sagte ihm, dass ich mich freue, dass er da ist. Er sah mich an – seine Augen verrieten viel von dem Leid, in dem er lebt. Dann beginnt er mit zitternder Stimme und erzählt, wie er zehn Jahre als Soldat in Afghanistan war, dass er dort auf Menschen geschossen hat. Seine Augen sind tief verzweifelt und in jeder Sekunde könnten wieder Tränen fließen. Ich nehme ihn in den Arm und er küsst meine Hände. Es ist so viel Ehrlichkeit in dieser Begegnung und ich bin fassungslos. Er versteht nicht, warum Deutschland seine Soldaten dort hin schickt und die Traumatisierung ist ihm in jeder Sekunde anzumerken. Er tut mir nur leid. Eine innige Umarmung ist alles, was ich ihm geben kann. Und ein Paar neue Schuhe. Trost – und ich erlebe echte Dankbarkeit.

    Wie landet man auf der Straße?

    Na, zum Beispiel so: man geht sein Leben lang arbeiten und eines Tages hat man einen Autounfall und landet ein paar Tage im Koma. Vor Gericht ist man nicht in der Lage sich richtig auszudrücken, weil man nicht so gut deutsch spricht. Die Arbeit geht verloren und infolge der bleibenden Behinderungen wird man berufsunfähig. Man kann seine Wohnung nicht mehr halten und landet vor dem Nichts. So geschehen. Und dennoch sagt mir dieser Mann ins Gesicht, dass er unendlich dankbar für sein Leben ist, denn es könnte auch vorbei sein. Ich weiß nicht, was für eine Wohnung er heute hat, aber nach all den Schlägen noch dankbar sein zu können für alles, was noch übrig blieb, das ist eine Einstellung, die ich mir auch wünsche und von der wir uns vielleicht eine Scheibe abschneiden könnten…

    Ich könnte ewig weiter erzählen, aber fürs Erste soll es hier reichen. Ich hoffe, ich konnte einen kleinen Einblick geben in das, was wir Woche für Woche erleben. Wenn du uns gerne unterstützen magst, dann schreib mich an. Ich danke dir für deine Zeit, diese Worte gelesen zu haben.

    Gott segne euch alle reich – genau wie er es mit mir getan hat, indem er mir all diese wunderbaren Menschen über den Weg geschickt hat.

    Freitag, 25.03.2016